Eine filmreife Geschichte
Jimmy und Blanche Sterling rebellieren gegen ihren übermächtigen Vater. Es ist keine bewusste Rebellion, da ist nichts Aufrührerisches. Diese Rebellion findet im Herzen statt, im Herzen junger Menschen, die keine Chance auf ein eigenes Leben haben. Der Vater hat die Macht; er ist es nicht anders gewohnt, als dass alle nach seiner Pfeife tanzen. Jimmy und Blanche zerbrechen an diesem Vater.
Die Erzählung spielt, mit Ausnahme eines 30seitigen Rückblicks im ersten Teil, zu Beginn der 50er Jahre. Jimmys Tod markiert das Datum: der 23. Juli 1951. Die USA befinden sich im Koreakrieg; der junge Mann hat sich vor dem Einsatz gedrückt. Für jemanden, der so bedeutend ist wie die Sterlings, gelten besondere Gesetze. Jedoch der Feind lauert im Innern, und die beiden jungen Menschen wissen nicht, wie sie mit ihrer besonderen Situation fertig werden sollen. Sie verzweifeln, sie zerbrechen. In dieser Not ähneln sie den Filmfiguren des James ("Jimmy") Dean (1931-1955). Die Verbindung, die Jean Dufaux hier herstellt, ist offensichtlich, aber die Nähe zum Vorbild flackert nur kurz auf, gerade so lange, dass man sie ahnt. Die Suche nach Aufmerksamkeit ("East of Eden", 1955; dt. "Jenseits von Eden"), der Drang, sich zu beweisen ("Rebel Without a Cause", 1955; dt. "Denn sie wissen nicht, was sie tun") und sogar die zerstörerische Macht des Öls ("Giant", 1956; dt. "Giganten") - es ist alles in diesem Comic, aber nicht als Grundstoff, nur als Würze.
Den Namen des Schauspielers Lederer findet man ebenfalls in der Filmgeschichte. Franz (Francis) Lederer (1899-2000) hatte im Krieg einen Karriereknick; ansonsten sind die Übereinstimmungen mit der Comicfigur eher vage. Über eine Zusammenarbeit Lederers mit Anne Baxter (1923-1985) ist nichts bekannt. Der als Regisseur von Minskys Lieblingsstreifen mit Bellita Bonney genannte Lewis Milestone (1895-1980) hat nie ein Film namens "Today We Die" gemacht.
Jean Dufaux hat Film studiert. Er dürfte sich damit auskennen; er spielt mit der Hinterlassenschaft. Vom Film weiß er, dass eine Geschichte Illusionen schaffen muss. In "Verzweifelt!" folgt ein Höhepunkt auf den nächsten. Der Weg führt stetig nach unten; es gibt keine Entwicklung zum Guten. Selbst der Showdown am Schluss des dritten Teils, bei dem alle "Bösen" aus dem Weg geräumt werden, hinterlässt einen bitteren Geschmack. So wie Jimmy in seinen letzten Minuten dem Auto die Steuerung übergibt, so schlittern die Personen dieses Comics durch ihr Leben. Ausnahme und über weite Strecken der Fels in der Brandung ist Waldo Harland, ein Außenseiter, der Mitte der 30er Jahre ganz zufällig in das Chaos der Sterlings geraten ist. Waldo gelingt es, dem Druck des Oliver Sterling zu entgehen; er führt sein eigenes, zunächst weitgehend selbstbestimmtes Leben als Drehbuchautor in Hollywood und New York. Aber auch Harland sieht sich schließlich als "Schatten", als jemand, den das Leben auffrisst.
Waldo Harland verweist auf Waldo Salt (1914-1987), der in dem Film "The Philadelphia Story" (1940; dt. "Die Nacht vor der Hochzeit") von Philip Barry am Drehbuch mitwirkte. Bei Dufaux ist es Harland, der die ungewöhnliche Eingangsszene des Films schreibt, in der Cary Grant Katharine Hepburn völlig überraschend in ihr Haus zurückstößt, wo sie zu Boden fällt. Hepburn wird im "Epilog" zu Dufaux' Comic einen längeren Auftritt bekommen. Die Filme helfen - ebenso übrigens wie die Darstellungen der Autos der jeweiligen Zeit - , den Comic zeitlich zu verorten: Dieser "Epilog" ist keinesfalls ein Nachklapp. Er spielt zur Zeit der Entstehung von "Woman of the Year" (dt. "Die Frau, von der man spricht"), also 1942 - circa sechs Jahre nach dem einführenden Rückblick und zehn Jahre vor der Hauptgeschichte des Comics. Er nimmt seinen Anfang am Pool der Katharine Hepburn, die hier ihrem Kollegen Humphrey Bogart vermittelt, ein Film mit ihnen beiden sei vermutlich "furchtbar... exotisch". Das beschreibt den Streifen "African Queen", in dem Bogart und Hepburn 1951 gemeinsam vor der Kamera stehen werden. Als Lebensraum des Drehbuchautors Harland ist Hollywood einer der die Handlung bestimmenden Orte - auch wenn der Comic kaum in Hollywood spielt.
Ansonsten wird der Leser die Örtlichkeiten von "Verzweifelt!" nur schwer lokalisieren können. Nehmen wir die Ölfelder aus der Eingangsszene: Mit Öl verbinden wir im allgemeinen Texas, aber Texas ist das nicht. Da die Sterlings ihren Wohnsitz dem Dekor mit den schneebedeckten Bergen nach in den Rocky Mountains haben, liegt Kalifornien nahe. Wer weiß heute noch, dass die Gegend von Los Angeles vor siebzig, achtzig Jahren von einem Wald von Bohrtürmen gesäumt wurde? Noch heute wird dort mitten in der Stadt Öl gefördert - die Bohrtürme verstecken sich in Attrappen von Hochhäusern oder ähnlichem. Das Haus der Familie Sterling ist jedoch Frank Lloyd Wrights Fallingwater nachempfunden (Anne Baxter war die Enkelin des berühmten Architekten), das in den Allegheny Mountains, etwa 80 Kilometer südöstlich von Pittsburgh zu finden ist. Es wurde zwischen 1935 und 1939 erbaut und gehört zu den bekanntesten Gebäuden in den Vereinigten Staaten. Vielleicht hat der Zeichner die Höhe und Schroffheit der Appalachen auch nur überschätzt. Immerhin ist Pennsylvania in Reichweite von New York, einem gesicherten Schauplatz eines Großteils der Hand- lung von »Verzweifelt!«, und Öl wurde in der Region ebenfalls in großem Maßstab gefördert.