Unter den Göttern des Alten Ägypten kommt dem "roten Gott" Seth eine Sonderstellung zu. Um den Thron des Osiris zu erobern, ermordete Seth seinen Bruder. Er zerstückelte die Leiche und verstreute die Teile im ganzen Land. Osiris' trauernde und verzweifelte Gattin Isis machte sich zusammen mit ihrer Schwester Nephtys auf die Suche nach den Überresten, um diese anschließend mit Hilfe von Magie wieder zusammenzufügen.
Anfang der 1950er Jahre stößt der Amerikaner Allan Fox in Frankreich auf ein altes Buch - ein gefährliches, ein "verfluchtes" Buch. Rasch wird er in eine Intrige unglaublichen Ausmaßes hineingezogen: Mithilfe des Buches und mit Fox' Unterstützung versucht der wegen seiner Verbrechen verbannte Gott Seth wieder auf die Erde zurückzukehren. Das Abenteuer führt Fox an die südliche Grenze Ägyptens, nach Philae, dem Sitz der Göttin Isis.
"Fox" ist ein phantastischer Comicroman. "Phantastik ist eine Art der künstlerischen Wirklichkeitsdarstellung, in der Realität und Irrealität, Rationales und Irrationales in irritierender Weise miteinander verbunden sind." Anders als wir es aus den Genre der Fantasy kennen, baut der Autor phantastischer Literatur nicht auf in sich geschlossene Welten, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen und in denen alles möglich ist, was der Definition dieser Welten entspricht. Ausgangspunkt ist vielmehr die Welt um uns herum, eine Welt, die wir zwar nicht durchschauen - sonst wären wir gottgleich - , auf die wir uns aber geeinigt haben, um unsere Existenz in geregelten Bahnen zu führen.
Bei Jean Dufaux ist Seth das absolute Böse, ein zerstörerischer Gott mit dem ausgesprochenen Willen, in den Ländern des Nils eine Terrorherrschaft zu installieren. Das kann ihm nur gelingen, wenn ein "eingeweihtes" menschliches Wesen entsprechende Passagen aus dem "verfluchten Buch" des Toth rezitiert. Jean-François Charles ("India Dreams") komtrastiert diese Gewaltphantasien mit großartigen zeichnerischen Darstellungen, die er und seine Frau Maryse Anfang der 90er Jahre auf mehreren Reisen nach Ägypten eingefangen haben. Der Leser wird alles genießen: eine ganz und gar "unglaubliche" Geschichte, handfestes Abenteuer, eingebettet in die exotische und wunderbar wiedergegebene Landschaft am Nil.
Jean Dufaux verwendet in seine Geschichte verschiedene Formeln, die nicht in die "Realität" gehören. Das gibt dem Autor das Recht, ihre Bedeutung im Unklaren zu lassen. So ist es etwa mit den Zeilen, die Fox auf den Lippen hat, als man ihm zum erstenmal in dem belgischen Bergwerk begegnet, und die sich ebenfalls durch die gesamte Erzählung ziehen: "You see it's like a portmanteau. There are two meanings packed up into one word." Dies ist ein Zitat aus Lewis Carrolls "Through the Looking Glass" (1871; dt. "Alice hinter den Spiegeln"), dem zweiten Teil von "Alice in Wonderland", als das Fabelwesen Humpty Dumpty Alice die Bedeutung der unverständlichen Wörter in dem Gedicht "Jabberwocky" erklärt.
Ein Portmanteau-Wort ist ein aus mehreren Wörtern zusammengesetztes neues (wie Brunch oder Brexit), in dem sich zwei Begriffe nebeneinander ins Bewusstsein drängen, ohne dass einer von beiden rein zur Geltung kommt. Zu Carrolls Zeiten verstand man unter Portmanteau einen Koffer, der sich nach zwei Seiten aufklappen lässt. Eine andere deutsche Übersetzung von Portmanteau-Wort ist daher auch Kofferwort. Lewis Caroll greift den Begriff 1876 in "The Hunting of the Snark" auf. Snark selbst sei ein Portmanteau-Wort, zusammengesetzt aus Snail (Schnecke) und Shark (Hai). "This poem is to some extent connected with the lay of the Jabberwock" schreibt der Autor im Vorwort. "Humpty-Dumpty's theory, of two meanings packed into one word like a portmanteau, seems to me the right explanation for all." Die Jagdexpedition nach einem mysteriösen Wesen, das es möglicherweise nicht gibt, gilt als Nonsense-Ballade. "For the Snark was a Boojum, you see", schreibt Carroll. Das hinderte eine große Schar ehrenwerter Literaturhistoriker nicht, nach einer intendierten "Lösung", der Lösung eines Rätsels, zu suchen.
"Fox" ist kein Nonsense; der Comic gehört zum Genre des Phantastischen. Doch wenn Dufaux Humpty Dumptys "Erklärung" zitiert (immer wieder zitiert), so bringt er in seinen Comic ein Element ein, das nach einer Entschlüsselung verlangt - ohne dass diese Auflösung vielleicht möglich ist. Man kann in dieses Zitat etwas hineindeuten, es könnte aber auch völlig ohne Sinn sein.
Es gibt noch andere Aussprüche in "Fox", die sich nicht auflösen lassen. "Was vereint war, wird getrennt" (Bes), das auf Seth und Horus bezogene "Der Bruder tötet den Bruder" (Lord Calder), vor allem aber "Das, was man zu sehen glaubt, ist nicht immer das, was man sieht" (der Büßer). "Man sieht nur, was man weiss", wusste schon Goethe - das, was man zu sehen glaubt, entspricht den bisherigen Erfahrungen und Erwartungen. Um frei zu sein, wie der Eingeweihte in "Fox", darf man sich von den Erscheinungen nicht täuschen lassen. Nichts ist so, wie es scheint. Der "Spiegel der Wahrheit" liefert kein Spiegelbild nach menschlichem, sondern nach göttlichem Ermessen. Das "Passieren des Spiegels" erinnert gleichfalls an Carrolls "Alice", die durch den Spiegel hindurchgeht und sich daraufhin in einer anderen Welt befindet.
Das Skotom (medizinisch eigentlich ein "partieller Ausfall des Gesichtsfeldes") funktioniert doppelt: Einerseits sieht man etwas nicht, weil man es nicht sehen will - was man aber sehen will, das zeigt sich selbst dann, wenn es gar nicht vorhanden ist. Zehn Jahre nach "Fox" thematisierte der Autor Dan Brown dieses Phänomen in seinem Thriller "The Da Vinci Code".